Tokio 2020: Es ist fünf vor zwölf

Noch 12 Monate bis zu den olympischen Taekwondo-Wettbewerben in Tokio 2020 – und momentan ist in Deutschland kein sicherer Qualifikant für das Event in Sicht. Wir sprachen mit Reinhard Langer, der das deutsche Team bei der Weltmeisterschaft in Manchester und beim Grand Prix in Rom beobachten konnte – und der mit seinem Verein erheblichen Anteil an der einzigen deutschen Medaille bei diesen beiden Turnieren hat.

Die Qualifikationskriterien für die Taekwondo-Wettbewerbe bei den Olympischen Spielen sind bekanntermaßen knallhart. Für Tokio werden sich zunächst 48 Sportler direkt qualifizieren: Je fünf pro Gewichtsklasse über die Olympische Rangliste von World Taekwondo, einer über die Grand Slam Champions Serie. Die Konkurrenz ist bei Olympia besonders stark, da es hier nur je vier Gewichtsklassen für Damen und Herren gibt – bei Welt- und Europameisterschaften aber je acht. Es kämpfen also die Favoriten aus zwei „normalen“ Gewichtsklassen um die Top-Positionen in einer olympischen Gewichtsklasse.

Direktqualifikation rückt in immer weitere Ferne

Die Qualifikation über die Rangliste wird am 9. Dezember 2019 beendet sein – unmittelbar nach dem Grand Prix Finale 2019.

Bester Deutscher im Olympiaranking ist Alexander Bachmann auf Platz 8.

Der einzige deutsche Sportler, der eine realistische Chance auf eine Direktqualifikation hat, ist Alexander Bachmann, der Weltmeister von 2017. Allerdings steht Alexander aktuell „nur“ auf Platz 8 (Stand Juli 2019) in seiner Klasse über 80 Kilogramm im Olympischen Ranking. Vor ihm befinden sich sieben Sportler aus sieben Nationen – das Glück, dass einer davon aus der Liste fällt, weil jede Nation nur je einen Sportler pro Gewichtsklasse zu Olympia schicken kann, wird der Deutsche so nicht haben. Er müsste aus eigener Kraft aufrücken, was immer schwieriger wird, je weiter die Zeit voranschreitet.

In allen anderen Klassen sieht es allerdings noch schlechter aus: Die besten Deutschen im Olympiaranking nach Alexander sind momentan Madeline Folgmann in der Klasse bis 57 Kilogramm auf Platz 16 sowie Yanna Schneider und Lorena Brandl in der Klasse über 67 Kilogramm auf den Plätzen 18 und 21.  Dass eine von ihnen es bis Dezember noch unter die Top-5 schafft, ist unwahrscheinlich.

Eine Qualifikation über den Grand Slam ist ebenso nicht möglich. Der einzige deutsche Sportler, der im Grand Slam Merit Point Ranking überhaupt auftaucht, ist Alexander Bachmann auf Platz 19 – für eine Qualifikation bräuchte er Platz 1.

Man wird sich im deutschen Olympiakader also darauf einstellen müssen, die Qualifikation für Tokio über das Europäische Qualifikationsturnier zu sichern, das am 24. und 25. April 2020 im italienischen Mailand stattfindet. Alle europäische Nationen, die noch Quotenplätze offen haben, können Athleten dorthin entsenden – es qualifizieren sich pro Gewichtsklasse die Nummer eins und zwei.

Die Chancen bei der Euro-Quali hängen nicht nur von sportlichen Leistungen ab, sondern auch vom taktischen Geschick der Teamleitung. Es gilt insbesondere zu berücksichtigen, in welchen Gewichtsklassen starke Europäer bereits direkt qualifiziert sind. Allerdings ist dieses Taktieren zunächst nur für die Qualifikation zielführend – ob der Qualifikant in Tokio dann Medaillenchancen hat, steht auf einem anderen Blatt.

Bei den Grand Prix Serienturnieren spielt Deutschland schon seit geraumer Zeit keine Rolle mehr. Die letzte Medaille bei diesem Gradmesser-Event datiert von 2014.

Desolate Grand Prix-Bilanz

Dass sich das deutsche Team in Sachen Qualifikation so schlecht präsentiert, ist, neben dem schwachen Auftritt bei der WM, insbesondere dem Abschneiden bei den Grand Prix Serienturnieren geschuldet.

Jedes Serienturnier ist ein G4-Event, es gibt dort also für die Goldmedaille 40 Rankingpunkte, und auch die Folgeplätze zählen entsprechend. Die Grand Prix-Turniere sind Einladungsturniere: Die besten 32 Sportler pro Olympischer Gewichtsklasse erhalten eine Einladung durch den Weltverband.

Bei der Prestige-Serie, die auch als Gradmesser für die Olympischen Spiele gilt, konnte Deutschland bislang ganze fünf Medaillen gewinnen: Gold und Bronze durch Volker Wodzich in 2014 und 2015, Bronze durch Tahir Gülec in 2014 sowie Silber und Bronze durch Levent Tuncat in 2015. Die letzte deutsche Grand Prix Medaille liegt somit vier Jahre zurück und zwei der drei Medaillisten sind bereits seit geraumer Zeit nicht mehr aktiv.

Im aktuellen olympischen Zyklus schaffte es noch kein Deutscher auf das Treppchen. Ein recht desolates Bild, das sich beim ersten Grand Prix 2019, der vom 7. bis 9. Juni in Rom stattfand, erneut bestätigte: Nicht einer der sieben Sportlerinnen und zwei Sportler des deutschen Teams kam in die Medaillenränge.

Von den neun teilnehmenden Athleten konnten nur drei je einen Kampf gewinnen. Wobei – um es gleich vorweg zu nehmen – kein einziger Deutscher gegen einen späteren Goldmedaillisten ausschied. Eine relativ schwierige Auslosung hatten Alexander Bachmann und Lorena Brandl, die in ihrem ersten respektive zweiten Kampf auf amtierende Weltmeister stießen. Allerdings schieden diese Gegner, Rafael Alba wie auch Bianca Walkden, danach ohne Medaille aus. Auch diese oder andere vermeintlich übermächtige Gegner sind also keinesfalls auf Erfolg abonniert und es gibt Athleten, die sich von solchen Größen nicht einschüchtern lassen.

Und je weiter das Feld an den Deutschen vorbei zieht, desto schwerer wird es, bei einem Grand Prix zu punkten: Denn je weiter die Sportler wegen mangelnder Erfolge im Ranking absinken, desto schlechter wird ihre Setznummer und auf desto härtere Gegner werden sie treffen.

Aus der Talentschmiede von Reinhard Langer stammt unter anderem Iordanis Konstantinids, der einzige deutsche Medaillengewinner bei der diesjährigen WM

„Wir dürfen uns nicht länger auf unser Glück verlassen – Erfolg ist planbar.“
Reinhard Langer im Interview

TA: Reinhard, wenn wir uns die die deutschen Teilnehmer beim Grand Prix in Rom anschauen, dann fällt auf, dass die beiden, die im Ranking die besten Positionen haben – Alexander Bachmann auf Platz 8 und Madeline Folgmann auf Platz 16 – aus der jeweils niedrigeren Gewichtsklasse stammen. Alexander kämpft sonst bis 87 kg und startet in der olympischen Gewichtsklasse im Schwergewicht. Madeline kämpft sonst bis 53 kg, in der olympischen Gewichtsklasse aber bis 57 kg. Welchen Einfluss hat das aus Ihrer Sicht?

Reinhard Langer: Die olympische Gewichtsklasse ist selbstverständlich ein ganz entscheidender Faktor. Wenn ein Sportler höher starten muss, als er es gewohnt ist, dann muss er darauf intensiv vorbereitet werden. Er muss den Nachteil, den er hinsichtlich Gewicht und Körpergröße hat, durch andere Stärken wettmachen, insbesondere durch Geschwindigkeit. Der Kampfstil muss in solchen Kämpfen angepasst werden, es ist wichtig, dann viel auf kurze Distanz zu arbeiten. Auch die Psyche spielt eine große Rolle: Der Sportler muss darauf fixiert sein, dem Gegner seinen Kampfstil zu diktieren. Alexander hat zum Beispiel gegen Rafael Alba, den Weltmeister im Schwergewicht, meiner Meinung nach zu sehr auf Kraft gesetzt. Der Kubaner konnte oft stehen bleiben und abwarten. Wenn man leichter und kleiner ist, muss man so einen Gegner in Bewegung halten und beschäftigen. Taktieren und versuchen, schöne Techniken anzubringen, ist in dieser Situation falsch.

TA: Nun ist es natürlich auch eine ungünstige Auslosung, gleich auf dem amtierenden Weltmeister zu treffen. Was kann man tun, damit die Auslosung nicht zum KO-Kriterium wird?

Reinhard Langer: Die Einstellung „oh je, ich muss gegen den Weltmeister kämpfen“ ist natürlich von vorneherein falsch. Es gibt ja nicht so viele Weltmeister – genau genommen pro olympischer Gewichtsklasse zwei. Diese beiden muss ich kennen und wissen, was auf mich zukommt, ebenso natürlich bei den anderen Favoriten. Unsere Sportler sind zum Großteil Profis. Sie haben Zeit sich mit ihren Gegnern vertraut zu machen – gemeinsam mit den Trainern wohlgemerkt. Denn der Sportler ist niemals allein verantwortlich für Erfolg und Misserfolg – die Verantwortung liegt maßgeblich beim Trainerpersonal. Nach meiner Erfahrung verlassen die deutschen Sportler nach einem verlorenen Kampf viel zu früh die Halle. Gerade jetzt wäre es wichtig, da zu bleiben und zu schauen, wie kommt ein anderer mit diesem Gegner zurecht, wie knackt er ihn vielleicht. Die Arbeit geht nach dem Kampf weiter und gerade nach einem verlorenen Kampf ist die Nachbereitung extrem wichtig. Schauen wir die Engländer an – die sind schon top und halten jeden Kampf auf Video fest. Im deutschen Lager gibt es meistens nur kleine Handy-Aufnahmen. Dabei ist es das A und O, an den Defiziten zu arbeiten.

Reinhard Langer beim Grand Prix in Rom mit dem Ehrenpräsidenten des italienischen Taekwondo-Verband Park Young-Ghil

TA: Wie beurteilen Sie das technische Repertoire des Teams?

Reinhard Langer: Um den einen oder anderen Gesprächspartner aus der internationalen Szene zu zitieren: Die Deutschen sind ein bisschen „old school“. Es wird viel mit Westentreffern gearbeitet. Dabei gibt es immer wieder Turniere, bei denen die Westen ein bisschen schwerer auslösen als bei anderen – in Rom war es so. Auf so etwas muss ich mich als Teamleitung einstellen, daraufhin muss ich die Sportler trainieren. Wenn Westentreffer schwer sind, ist der Fauststoß umso wichtiger. Das ist eine simple Technik, auf die auch Top-Favoriten setzen. Bei 80 Prozent des deutschen Teams wird der Fauststoß viel zu wenig eingesetzt. Außerdem ist natürlich ein vielseitiges Repertoire zum Kopf wichtig. Das ist anspruchsvoll, daran muss individuell gearbeitet werden. Da nützt es nichts beim Kaderlehrgang in der Gruppe zu trainieren.

TA: Wir stand es mit den konditionellen Voraussetzungen in Rom?

Reinhard Langer: Nun ja, es war recht heiß in Rom. Das hat aber alle Teilnehmer gleichermaßen getroffen. Speziell im deutschen Team gibt es einige Sportler, die zwei Runden lang gut mithalten und dann abbauen. Wenn sie in Führung liegen, machen sie nichts mehr und verlieren die Führung. Und wenn sie dann hinten liegen, dann haben sie nicht mehr die Kraft und die Nerven, aufzuholen. Das darf nicht passieren. Kondition ist eine Grundvoraussetzung – und das Verhalten bei Rückstand muss mit jedem Sportler trainiert werden, daran mangelt es meiner Meinung nach.

TA: Stichwort individuelles Arbeiten – hier wären ja auch die Heimtrainer gefragt. Was halten Sie von der Idee, diese stärker in die Arbeit des Verbands zu integrieren?

Reinhard Langer: Das wäre meines Erachtens der richtige Weg. Viele Heimtrainer sind ja ohnehin bei den wichtigen Turnieren vor Ort – warum werden sie nicht mehr eingebunden? Sie müssen ja nicht unbedingt jedes Mal an der Fläche sitzen, aber der Heimtrainer kennt seinen Schützling am besten, er kann Aufgaben vor Ort übernehmen, vorbereiten, warmmachen und so weiter. Dann würde auch die Kommunikation besser funktionieren. Wenn ein Sportler ständig in einen Fauststoß läuft – dann muss das auch im Heimtraining abgestellt werden, da müssen sich Bundestrainer und Heimtrainer absprechen. Es sollte hier ein Umdenken stattfinden. Medaillen zu gewinnen ist schwer genug – wenn die Heimtrainer außen vor gehalten werden, verlieren am Ende alle.

TA: Was halten Sie vom deutschen Nominierungssystem, das auf den so genannten Credits beruht, also einer Art deutschen Rangliste.

Reinhard Langer: Meines Erachtens ist das ein veraltetes System. Die Credits sollen gewährleisten, dass die nominierten Sportler mit der Weltelite mithalten können. Aber wenn es so weiter geht, bekommen wir bald gar kein Team mehr zusammen, das die Credits erfüllt. So ein System darf kein Knebel sein. Wenn ich zum Beispiel sehe, ein Sportler hat zwar die Credits nicht, aber er hat sich immer wieder gegen Top-Leute gut geschlagen, dann gebe ich dem doch eine Chance. Welchen Sinn macht es, so einen Sportler zuhause zu lassen, und seine Klasse bleibt bei der WM dann unbesetzt?

TA: Wie steht es unter den oben beschriebenen Umständen Ihrer Meinung nach um die Olympiaqualifikation?

Reinhard Langer: Eine Direktqualifikation wird sehr schwierig werden. Man sollte sich im deutschen Lager auf keinen Fall länger darauf verlassen, auch nur einen Sportler auf diese Weise nach Tokio zu bringen. Stattdessen muss man jetzt beginnen, auf die Europaqualifikation hinzuarbeiten und zwar mit den Sportlern, die dafür in Frage kommen, ganz gezielt. Natürlich ist schlussendlich wichtig, in welche Klassen die starken Europäer schon qualifiziert sind. Aber die Sportler müssen jetzt schon vorbereitet werden und zwar mit einem vernünftigen, durchdachten Konzept. Erfolg ist planbar – ich allein habe mit meinem Verein in den letzten sieben Jahren 17 EM und WM Medaillen gewonnen. Das Potenzial in Deutschland ist da. Aber wir dürfen uns jetzt nicht länger auf unser Glück verlassen – es ist fünf vor zwölf!

Info:

Einen Überblick über die aktuellen Positionen im olympischen Ranking des Weltverbands finden Sie jederzeit hier:
http://www.worldtaekwondo.org/ranking/