Warum es gut ist, wenn Kinder Taekwondo treiben

Von Soo-Yong Park

Überbesorgte Eltern, immer mehr Kommunikation über elektronische Hilfsmittel, Zeitmangel durch Bildungsstress – es gibt eine ganze Menge von Gründen, die Kinder vom Spielen und Sport treiben mit Gleichaltrigen abhalten. Das bringt nicht nur gesundheitliche Probleme mit sich – auch die Entwicklung der Kinder leidet.

Behütet, aber lebensunfähig

Wenn man Raubtiere freilässt, die ihr bisheriges Leben in einem Zoo verbracht haben, können sie meist nicht jagen. Ein Kaninchen, das zu einem Löwen oder einem Tiger ins Gehege gegeben wird, wird von diesen nicht sofort gefressen, sondern lediglich angeschaut. Außerdem zeigen solche Raubtiere meist ein gestörtes Paarungsverhalten, selbst wenn man Männchen und Weibchen zwangsweise zusammenbringt. Oftmals müssen sie zunächst unter Drogen gesetzt werden oder man versucht sie durch Videos mit Paarungsszenen zu stimulieren. Das nächste Problem ist, dass die Tiere meist mit der Betreuung ihrer Jungen überfordert sind. Dies kann soweit gehen, dass sie diese verletzen oder töten. Zusammengefasst bedeutet dies, dass Tiere aus dem Zoo ihren natürlichen Zustand, ihre Wildheit verloren haben.

Tiger_Family Für fast alle Vögel und Säugetiere gilt, dass sie ohne eine Betreuung durch ihre Mutter während der Kindheit nicht überlebensfähig sind. Nach der Geburt kämpfen die Jungen gegeneinander um die Muttermilch. Durch diesen Überlebenskampf erlernen sie verschiedene Fähigkeiten für das weitere Leben. Außerdem müssen Jagd, Hierarchiekampf, Flucht vor dem Feind und Paarungsverhalten im Lauf der Zeit erlernt werden. Wenn eine dieser Eigenschaften nicht erlernt wird, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass die Tiere verhungern oder einfach von einem Feind getötet werden.

Die Bildung einer Gesellschaft – die Zivilisation – ist ein Alleinstellungsmerkmal des Menschen gegenüber Tieren. Deshalb dauert der menschliche Lernprozess auch deutlich länger, als der von Tieren. Je weiter sich die Zivilisation entwickelt, desto länger dauert der Lernprozess, was jedoch durch die Verlängerung der Lebenszeit angemessen ausgeglichen wird. Wenn wir Kinder frühzeitig aus diesem Lernprozess ausschließen, bevor sie die Grundlagen des Zusammenlebens in unserer Gesellschaft erlernt haben, zeigen sie ähnlich Defizite wie die Raubtiere im Zoo.

Sehen und erkennen

Vor einigen Jahren ging ein interessanter Fall durch die Presse: Der Amerikaner Michael May war im Alter von drei Jahren durch einen Unfall erblindet. 43 Jahre später erhielt er durch eine Operation sein Augenlicht zurück. Seine Augen sind nun vollkommen funktionstüchtig – aber May kann die Bilder, die er sieht, nicht interpretieren. So kann er zum Beispiel den Gesichtsausdruck und die Mimik seiner Frau und seiner Söhne nicht verstehen. Forscher erklären dies damit, dass Mays Gehirn zu dem Zeitpunkt, als er erblindete, diese Fähigkeiten noch nicht entwickelt hatte. Hätte er sein Augenlicht zwei Jahre später verloren, hätte die Operation im Erwachsenenalter mit hoher Wahrscheinlichkeit wesentlich bessere Resultate erzielt. Dieser Fall zeigt, dass das Gehirn eines Kindes wichtige Reize und Anregungen von außen braucht, um sich zu seiner vollen Bestimmung zu entwickeln. Fehlen diese Reize, so bleiben Schäden zurück, die irreparabel sind.

Kommunikation ohne Worte

IMG_1115_1Heutzutage haben viele Eltern ein übertriebenes Bedürfnis, ihre Kinder zu schützen. Deshalb verhindern sie viele Aktionen, für die sich die Kinder ohne Einmischung ihre Eltern entschieden hätten. Das hat zur Folge, dass die Kinder ihr natürliches Verhalten verlieren. Wenn sich zum Beispiel viele Kinder auf einem Spielplatz treffen, kann es leicht passieren, dass sie miteinander zanken, raufen oder sich streiten. So können die Kinder ihre tierische Natur erleben und ihre Instinkte entwickeln. Das Gefühl für den Anderen wird über Hautkontakte, Mimik und Ton erworben. Die Kinder erkennen, dass ein anderer stärker ist und lernen verschiedene Verhaltensweisen – sich mit dem Stärkeren zu verbünden oder ihn als Feind erkennen, zu spielen, wegzulaufen, Schmerz zu empfinden und zu weinen. Für das Leben sind diese Erfahrungen wichtig. Dennoch wird vielen Kindern heute die Möglichkeit genommen, solche Erfahrungen zu machen. Die Kinder werden in Watte gepackt und vor allen vermeintlich negativen Einflüssen geschützt.

Korea und Deutschland sind sich in einer Hinsicht sehr ähnlich: Die Geburtenrate in Deutschland ins die niedrigste von allen EU-Ländern und Korea weist die niedrigste Geburtenrate aller OECD-Länder auf. Viele Eltern möchten lediglich ein Kind haben und dieses Kind sorgfältig erziehen. In Korea spielt vor allem die Bildung der Kinder eine große Rolle: Oft investieren die Eltern den Großteil des Familieneinkommens auf die perfekte Ausbildung, der Besuch teurer Nachhilfeinstitute ist die Regel. Auch in Deutschland sind verschiedene Formen der Überbehütung allenthalben zu beobachten. Der Wunsch der Eltern, ihr Kind zu beschützen, ist verständlich. Doch daraus entstehen auch Probleme, insbesondere ein wachsendes Unvermögen vieler Kinder, mit anderen zu kommunizieren. Denn die Kinder haben zu wenig Gelegenheit, beim Spielen oder Sport treiben mit anderen ihre sinnliche Natur zu entwickeln. Die natürliche, intuitive Kommunikation muss durch vielfältige Erfahrungen in der Kindheit erlernt werden.

Vom Umgang mit anderen

Es gibt zwei Umgangsformen, die in der Kindheit eine große Rolle spielen: Der intuitive und der bewusste, regelhafte Umgang. Die intuitive Kommunikation kann durch das Spiel mit Gleichaltrigen ausgebildet werden. Der bewusste, regelhafte Umgang und die Höflichkeit können sehr weitgehend durch den Sport erlernt werden. Denn die Höflichkeit ist keine Charaktereigenschaft, sondern ein Ergebnis der Persönlichkeitsbildung.  Durch Persönlichkeitsbildung werden auch das Bewusstsein für den anderen geschult und die Rücksichtnahme erlernt. Voraussetzung dafür ist es, einen menschlichen und von Einfühlungsvermögen gelenkten Umgang zu pflegen. Ohne Kommunikation werden andere Menschen zum Objekt. Gleichzeitig können auch Tiere eine geradezu menschliche Rolle übernehmen, wenn wir entsprechendes Mitgefühl in die Kommunikation mit ihnen legen. Auch in der Beziehung zwischen Menschen und Tieren spielen Körperkontakte und Blickkontakte eine große Rolle. Für eine ganzheitliche Entwicklung der Persönlichkeit ist es wichtig, dass nicht nur die Beziehung zwischen den Eltern und ihren Kindern eine enge ist, sondern auch dass Kinder untereinander die Gelegenheit haben, intuitiv und bewusst miteinander umzugehen.

IMG_1153_1Beim Sporttreiben sind kleine Verletzungen kaum zu vermeiden. Durch diese Erfahrungen lernen die Kinder sich selbst zu schützen. Auch kleine Verletzungen und die Erfahrung von Schmerz und Angst sind wichtig, um gesund und heil durchs Leben zu kommen. Doch heute müssen Kinder meist ohne solche Erlebnisse auskommen. Denn viele Eltern wollen nicht, dass ihre Kinder einen Sport mit Körperkontakt ausüben. Deswegen wachsen diese ohne derartige Erfahrungen auf, die sie im Zuge einer natürlichen Entwicklung schon in der Kindheit machen müssten. Extrem formuliert können viele soziale Probleme auf zu wenig Sporttreiben in der Kindheit zurückgeführt werden. In Korea beispielsweise gibt es im Moment fast keinen Sportsunterricht in Schulen, weil die Kinder von 7 bis 24 Uhr lernen müssen. Sie gehen nach der Schule in ein privates Institut um Englisch, Mathematik oder Physik für das Abitur zu lernen, um später einmal an einer besten Universitäten des Landes studieren zu können. Die Kinder haben keine Möglichkeit, ihre tierische Natur kennen zu lernen, zu entwickeln und letztlich zu kontrollieren. In Korea sind daraus verschiedene gesellschaftliche Probleme entstanden, wie zum Beispiel die häufig auftretende Gewalttätigkeit beim Wehrdienst. Auch die hohe Selbstmordrate bei jungen Koreanern  wird damit in Verbindung gebracht. Häufige Auslöser sind Verzweiflung über den gnadenlosen Bildungsstress, bei jungen Männern aber auch der Kulturschock beim Eintritt in den Wehrdienst. Um jungen Menschen eine ganzheitliche Entwicklung um ermöglichen, sollte der Sportunterricht an Schulen wieder eine größere Rolle spielen und Schülerinnen und Schüler sollten gezielt motiviert werden, frühzeitig eine Sportart zu betreiben.

Taekwondo als Lebensschule

Eine ganzheitliche Bildung sollte sowohl die instinktive als auch die bewusste Kommunikation zulassen. Für die Persönlichkeitsentwicklung ist es wichtig, dass die Emotionen und das angeborene Naturell erlebt und durch Regeln der Höflichkeit und des Zusammenlebens kontrolliert werden. Der Taekwondo-Unterricht ist dafür in hohem Maße geeignet. Kinder erleben hier die intuitive Kommunikation durch Körper- und Blickkontakte aber auch das bewusste, durch Regeln kontrollierte Miteinander. Das Erziehungsprinzip der Über-Behütung vermeidet Risiken, lässt aber auch keine natürliche Wildheit zu. Im Taekwondo-Sport sind – mehr noch als in vielen anderen Sportarten – „wilde“ Verhaltensweisen erlaubt: Körperkontakt, Kommunikation über Blickkontakt und Mimik, Kampfschrei. Gleichzeitig wird diese Wildheit durch die Etikette des Taekwondo zivilisiert. Das Erziehungsprinzip des Taekwondo ist es, ursprüngliche Verhaltensweisen zuzulassen, aber durch konsequente und strenge Regeln zu kontrollieren. So kann das Taekwondo-Training ein wichtiges Gegengewicht schaffen zur weit verbreiteten Überbehütung.

Zum Autor: Soo-Yong Park hat einen Abschluss in Taekwondo an der Yongsan Universität in Korea und studiert heute Sport an der Universität Stuttgart. Er ist Träger des 5. Dan und seit mehreren Jahren als Trainer für Kinder, Jugendliche und Erwachsene tätig.

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