Ihre Meinung ist gefragt!

Ihre Meinung ist gefragt:

Großbritannien feiert regelmäßig Erfolge im Taekwondo-Leistungssport – unser Kolumnist Mike McKenzie erklärt warum. Denn dahinter steht ein hocheffizientes System, das mit vielen Traditionen bricht. Unsere Frage an Sie: Kann das britische System als Vorbild dienen? Könnten Sie sich zum Beispiel vorstellen, dass auch hierzulande die erfolgreichen Leistungssportler nicht mehr aus den alteingesessenen Taekwondovereinen kommen, sondern ohne Umwege vom Kickboxen oder Karate? Im ersten Moment ist der Gedanke sicher gewöhnungsbedürftig – doch der Erfolg gibt den Briten recht. Wir sind gespannt auf Ihre Meinung. Schreiben Sie uns an: redaktion@taekwondo-aktuell.de. Die interessantesten Beiträge veröffentlichen wir in unserer nächsten Ausgabe.

Mike McKenzie‘s Corner

Großbritanniens Taekwondo-Erfolg – ein Bruch mit Traditionen

2016 gewann Großbritannien im Taekwondo die Teamwertung bei der Europameisterschaft und bei den Olympischen Spielen in Rio einmal Gold, einmal Silber und einmal Bronze – damit sind die Briten der erfolgreichste Mitgliedsverband der Europäischen Taekwondo Union.  Und dieser Erfolg wird sich fortsetzen, da immer mehr starke Taekwondo-Sportler in den Vordergrund treten. Dabei sind die Ergebnisse im Taekwondo kein Einzelfall im britischen Sport – immerhin kam Großbritannien im Medaillenspiegel von Rio auf Platz 2, übertroffen nur von den USA.

Der Schock von Atlanta

Bei den Olympischen Spielen von Atlanta 1996 gewann Großbritannien eine einzige Goldmedaille im Rudern und das führte zu einer Veränderung in der Regierungspolitik in Sachen Sport. Die Einführung einer Nationalen Lotterie sorgte für bis dato unvorstellbare finanzielle Mittel – aber eingeführt wurden auch Leistungsziele, Rechenschaftspflichten und ein „World Class Performance Plan“.

Taekwondo erlebte seine Premiere bei den Olympischen Spielen 2000 in Sydney. Es sollte weitere acht Jahre dauern, bis Großbritannien eine Medaille im Taekwondo gewann. Diese Medaille kann als Katalysator für die Veränderung gesehen werden. Umstrittenerweise bekam Sarah Stevenson keine Punkte für einen völlig offensichtlichen Kopftreffer, der ihr eine Medaille gesichert hätte – und das obwohl die Fernsehaufnahmen einen klaren Treffer zeigten. Das Ergebnis wurde korrigiert und diese Entscheidung war nicht nur Voraussetzung für Großbritanniens erste Medaille sondern auch ein wesentlicher Faktor, der zur Einführung des Video-Replays führte.

Die Lösung: Talent-Transfer

Nachdem sich nun endlich Medaillen-Potenzial abzeichnete und nachdem mit London 2012 die Heim-Olympischen-Spiele ins Haus standen, war Taekwondo sicherlich auf der Erfolgsspur. Trotzdem gab es ein großes Fragezeichen: British Taekwondo hatte insgesamt weniger als 15.000 Mitglieder. Die Briten hatten ihre Top-Sportler, aber es gab große Bedenken, dass der Talent-Pool einfach nicht groß genug sein würde. Dasselbe traf auf viele andere Sportarten zu und deshalb führte der britische Sportbund „UK Sport“ ein „Talent Transfer“-Programm ein. Dieses Programm ermutigte Athleten eine Olympische Disziplin auszuprobieren, die sie bisher nicht trainiert hatten, aber für die sie die körperlichen Voraussetzungen mitbrachten, um auf hohem Niveau an Wettkämpfen teilzunehmen. Der Taekwondo-Bereich dieses Programms wurde bekannt als „Fighting-Chance“. Die Kandidaten dafür kamen unter anderem aus WTF-Taekwondo-Clubs, die nicht dem nationalen Verband angehörten, vom ITF-Taekwondo, Kickboxen oder Karate.

Präzedenzfall Jade Jones

Jade Jones gewann 2010 die Olympischen Spiele der Jugend. Sie hatte mit ITF-Taekwondo begonnen und einen erfolgreichen Wechsel vollzogen, motiviert vom Olympischen Status der WTF. Damit schuf sie einen Präzedenzfall: Mitglieder im Taekwondo-Nationalteam mussten nicht  länger dem traditionellen Weg folgen, der daraus bestand einem WTF-Club beizutreten, sich durch das Prüfungssystem zu arbeiten und an Wettkämpfen zunächst auf lokalem, dann auf nationalen und schließlich internationalen Level teilzunehmen.

Keimzelle des Erfolgs: GB-Academy

Fighting Chance-Auswahlevents wurden überall im Land abgehalten und eine Truppe von „Nicht-Taekwondo“-Sportlern trat der GB-Academy in Manchester bei. Die GB-Academy, die vor Kurzem durch ein Millionen-Investment verbessert wurde, ist ein Exzellenz-Zentrum des Taekwondo. Die Athleten arbeiten dort mit Taekwondo-Coaches aber auch mit Kraft- und Konditions-Trainern, Physiotherapeuten, Ernährungswissenschaftlern und Psychologen. Sie trainieren intensiv mit klaren Leistungszielen. Wenn man dazu noch die Statistiker, Aufnahmeteams und Sport-Analysten zählt, hat das britische Team voher nie dagewesene Ressourcen, basierend auf der Leistung des Einzelnen.

Die Aufnahme von Fighting Chance-Athleten war ein Faktor der dazu führte, dass Aaron Cook die GB Akademie verließ. Cook hatte als Teenager nur knapp eine Medaille in Peking verpasst und galt als gesetzt für die Olympischen Spiele in London. Sein spektakulärer, unterhaltsamer Stil, Schnelligkeit und Technik machten ihn zum Aushängeschild in der Taekwondo-Welt. Zwei der wichtigsten Fighting Chance-Athleten waren Kickboxer Damon Sansum und Lutalo Muhammad, der von Kindheit an WTF-Taekwondo mit seinem Vater trainiert hatte, aber nicht über dasselbe Profil verfügte wie Cook. Cook verließ die GB-Academy im Frühjahr  2011. Er war damals noch immer die Britische Nummer 1 in der Rangliste bis 80 Kilogramm – aber er wollte nicht mehr länger im System des Nationalteams trainieren, weil er das Gefühl hatte nicht oft genug an Meisterschaften teilzunehmen und stattdessen dabei half, seine eigene Konkurrenz zu trainieren.

Autonomer Leistungssportbereich

An der Spitze des britischen Teams steht der Leistungssportdirektor – Gary Hall. Hall ist ein ehemaliger britischer Athlet und Trainer, aber er ist nicht der Cheftrainer. Das Trainerteam arbeitet unter seiner Direktion und Führung um die besten Leistungen aus den Sportlern herauszuholen. Wenn eine Trainer-Sportler-Beziehung nicht funktioniert, wird Hall die nötigen Veränderungen einleiten. Hall ist kein Meister oder Lehrer – seine Rolle hat keine Parallelen in der traditionellen Kampfsport-Struktur oder Organisation. Unter Halls Führung und mit der Unterstützung des Vorstands hat sich Great Britain Taekwondo vom Leistungssportbereich des Britischen Taekwondo hinentwickelt zu einer eigenständigen Organisation, in Partnerschaft mit British Taekwondo aber unabhängig und direkt finanziert.

Große Erwartungen

2012 war die größte Herausforderung für das britische Taekwondo. Die Erwartungen waren hoch. Sarah Stevenson würde an ihren letzten Olympischen Spielen teilnehmen, aber sie trat als Weltmeisterin und Favoritin an. Aroon Cook war außerhalb der Akademie, aber noch immer auf Platz 1 der Rangliste – trotz einer schwachen Vorstellung bei der Weltmeisterschaft 2011. Die Entwicklung von Jade Jones, der Siegerin der Olympischen Jugendspiele, war beeindruckend und sie brachte die Voraussetzungen für ein  gutes Abschneiden mit. Die Herrenklasse bis 68 Kilogramm war die vierte Kategorie die sich Großbritannien ausgesucht hatte (als Gastgebernation durften die Briten automatisch vier Athleten ins Rennen schicken). Dafür wurde Martin Stamper ausgewählt nach sehr erfolgreichen Vorstellungen im Vorfeld von Olympia.

Im Mai 2012 gewann Cook die Euro-Goldmedaille bei den Herren bis 80 Kilogramm und es galt als sicher, dass er für Olympia nominiert werden würde. Lutalo Muhammad gewann die Kategorie über 87 Kilogramm. Es war die bislang erfolgreichste Europameisterschaft für das britische Team und das war ein Zeichen dafür, dass das britische System Ergebnisse lieferte. Kurze Zeit nach den Europameisterschaften wurde die britische Auswahl für Olympia bekannt gegeben: Jade Jones bis 57 Kilogramm, Sarah Stevenson bis 67 Kilogramm, Martin Stamper bis 68 Kilogramm und Lutalo Muhammad bis 80 Kilogramm. Die Taekwondo-Welt war geschockt. Die Tatsache dass Cook übergangen worden war, war führte zu Ärger und Diskussionen allenthalben. Es kam zu gerichtlichen Auseinandersetzungen und es gab ein Medienspektakel. Wie konnte Cook nicht ausgewählt worden sein? Trotz Protesten von führenden Sportpersönlichkeiten und massivem Widerspruch aus aller Welt blieben die Verantwortlichen bei ihrer Entscheidung. Lutalo Muhammad, ein Fighting Chance-Athlet war ausgewählt worden und der Erfolgsdruck, der auf ihm lastete, war enorm.

Großbritannien musste sein Soll von zwei olympischen Medaillen erfüllen. Am zweiten Tag der Wettbewerbe wurde Jade Jones das Gold-Mädchen, indem sie die erste Olympische Goldmedaille überhaupt für das britische Taekwondo-Team gewann. Stamper hatte sich gut präsentiert aber war an den Medaillen vorbeigeschrammt. Am nächsten Tag der Wettbewerbe war eine verletzte Sarah Stevenson nicht in der Lage, an ihre Leistungen anzuknüpfen, und schied früh aus. Muhammad verlor seinen Auftaktkampf gegen den Argentinier Crismanich, aber da der Argentinier ins Finale kam, stand Muhammad in der Trostrunde – ein System das es nur bei den Olympischen Spielen gibt um die Bronzemedaille auszukämpfen. Und tatsächlich gewann Muhammad Bronze – Großbritanniens erste Taekwondo-Olympiamedaille für die Herren. Die Briten hatten ihre Leistungsziele erfüllt und das garantierte die Finanzierung für den nächsten Olympischen Zyklus und den Ausbau der Akademie.

Fighting Chance-Athleten auf dem Vormarsch

Großbritannien richtete 2013 den ersten Grand Prix aus und die Einführung der Weltrangliste änderte das System, nach dem sich Taekwondo-Sportler qualifizieren und kämpfen. Das britische System erwies sich als eines der besten und das Team war eines der erfolgreichsten. Damon Samsum gewann Silber bei den Weltmeisterschaften 2015 und weitere Medaillen gingen an Fighting Chance-Athleten wir Rachelle Booth und Charlie Maddock. Bianca Walkden, die 2015 Weltmeisterin wurde, war eine der wenigen Sportlerinnen, die über den traditionellen Weg über einen Taekwondo-Verein an die Spitze gekommen waren.

Der Erfolg geht weiter

2016 war, wie eingangs schon erwähnt, das erfolgreichste Jahr für Großbritannien. Es ist bemerkenswert, dass Lauren Williams den Europameister-Titel bei den Senioren gewann und danach den Weltmeister-Titel in der Jugend, beides in umwerfender Art und Weise. Williams qualifizierte sich nicht für Rio 2016, aber sie scheint eine sichere Kandidatin für Tokyo 2020 zu sei. Williams ist eine ehemalige Kickboxerin, die von Jade Jones inspiriert wurde. Großbritannien beginnt das Jahr 2017 mit einem neuen Zufluss von Sportlern durch Fighting Chance und baut das Programm noch aus.

Der britische Erfolg ist ein einzigartiges Modell, das auf dem einzelnen Sportler basiert und ein Teil des nationalen World Class Performance Programms ist, das Ergebnisse liefert. Es ist noch in der Entwicklung und es ist ein sehr hartes System. Talentierte Athleten werden ausgewählt und trainieren professionell in einer viele Millionen-Pfund-teuren Einrichtung mit nie dagewesener technischer Unterstützung. Es ist kein traditionelles Taekwondo-System. Großbritannien ist momentan eine führende Taekwondo-Nation und das scheint sich fortzusetzen. Wie werden anderen Nationen darauf reagieren?

Unser Kolumnist:

Michael McKenzie wurde vor kurzem zum nicht-geschäftsführenden Vorstandsmitglied von British Taekwondo berufen und wurde bei der jährlichen Mitgliederversammlung 2016 zum Vizepräsidenten gewählt.

Ersten Kommentar schreiben

Antworten