Zwischen Selbstermächtigung und Gemeinschaftssinn

Taekwondo als Mittel einer integrativen Bewegungsspädagogik?!

Von Martin Minarik

Autor Martin Minarik

Im Rahmen des folgenden Artikels hat sich unser Autor Martin Minarik mit dem gesellschaftlichen Potential des Taekwondo auseinandergesetzt. Dabei verbindet er seine eigenen Erfahrungen als Trainer und Praktizierender mit seinen kultur-soziologischen Nachforschungen, um konkrete Vorschläge für ein sozial integratives Taekwondo-Training zu entwerfen.

Als Taekwondo-Praktizierende, und insbesondere als Taekwondo-Lehrende, sind wir in unserer gesellschaftlichen Rolle oftmals mit der Frage konfrontiert, ob und wie das Taekwondo eine besondere gesellschaftliche Funktion hinsichtlich moralisch-ethischer Bildung trägt oder tragen sollte. Die überwiegende Mehrheit der Taekwondo-Praktizierenden würde einem solchen Anspruch vermutlich beipflichten. Verfolgt man darüber hinaus die aktuelle mediale Debatte um „Zuwanderung“, „Integration“ und „Inklusion“, so stellt sich für uns als Taekwondo-Lehrende die Frage, ob und wie Taekwondo einen Beitrag zur Lösung dieser gesellschaftlichen Problematik leisten kann. Diese stellt uns vor die Herausforderung, Menschen mit unterschiedlichem Verständnis für gesellschaftliche Konventionen und Konzepte in unsere Gesellschaft zu integrieren, aber gleichzeitig konformistische Zwänge zu vermeiden und eine selbstbestimmte Entwicklung zu fördern. Es geht also um nicht weniger, als das Gleichgewicht von individueller Verwirklichung und sozialem Gemeinsinn. Welche Praktiken beinhaltet nun das Taekwondo, die eine moralisch-ethische Bildung auf subjektiver und intersubjektiver Ebene ermöglichen? Dieser Beitrag enthält meine Überlegungen zu diesem Thema, die in der Auseinandersetzung mit der eigene Lehr- und Praxistätigkeit wie auch aktuellen wissenschaftlichen Debatten in Körper- und Kultursoziologie entstanden sind.

Poomsae und Gemeinschaft: Der kollektive Körper

Taekwondo als System zeichnet sich durch seinen Facettenreichtum aus. Gemeinhin fasst man unter Taekwondo, leicht variierend, die Teilbereiche: Poomsae, Kyorugi, Kyeokpa und Hosinsul. Die Ziel- und Schwerpunktsetzung im Training entscheidet dabei über die Gewichtung der einzelnen Bereiche. Während ein umfassendes und ausgewogenes Taekwondo-Training sicherlich alle diese Teilbereichen umfassen sollte, sind insbesondere zwei davon in Bezug auf eine sozial integrative Zielsetzung von besonderer Bedeutung: Poomsae und Kyorugi.

Die Poomsae, die Bewegungsformen des Taekwondo, sind nicht auf eine einzige Funktion zu reduzieren. Sie vereinen vielmehr ganz unterschiedliche Anwendungsmöglichkeiten und Trainingsperspektiven. Auf diesen Sachverhalt wurde bereits im Rahmen einer eigenen Beitragsreihe, über die Vielseitigkeit der Poomsae, eingegangen (Taekwondo Aktuell, Ausgabe 4/2015-10/2015). Ohne Anspruch auf Vollständigkeit, werden die Poomsae in den einzelnen Beitragen jeweils als Bewegungsschule, künstlerische Performance, Meditation in Bewegung, Philosophieren mit dem Körper und als Training für die Selbstverteidigung interpretiert. Darüber hinaus besitzen die Poomsae ein besondere Bedeutung für ein sozial integratives Taekwondo-Training. Wichtig ist jedoch der Modus, in dem diese praktiziert werden.

Drei Phasen der Poomsae-Praxis

Poomsae können einzeln, wie auch gruppenweise praktiziert werden. Während die Solo-Variante sozial relevante Fähigkeiten wie Konzentration, Selbstbeherrschung und Selbstbewusstsein befördern kann, ist ganz besonders die gruppenweise Praxis der Poomsae als sozial integratives Trainingselement zu begreifen. Eine sinnvolle Methode ist, gruppenweises Poomsae-Training in drei Stufen aufzubauen: In der ersten Phase steht der Trainer oder Meister, zusammenfassend als Übungsleiter bezeichnet (man verzeihe die ausschließlich männliche Form, aber es erleichtert den Schreib- und Lesefluss enorm), der Gruppe voran. Durch seine Kommandos gibt der Übungsleiter das Tempo und den Rhythmus der Poomsae vor. In dieser Phase läuft der Übungsleiter gemeinsam mit den Trainierenden die Form. Er leitet die Gruppe also nicht nur durch seine Kommandos an, sondern ermöglicht gleichzeitig einen Bewegungsabgleich für die Praktizierenden. In der zweiten Phase läuft der Übungsleiter die Form nicht mehr gemeinsam mit den Trainierenden, sondern leitet diese lediglich durch seine Kommandos an. Wie auch in der ersten Phase gibt der Übungsleiter Tempo und Rhythmus durch seine Kommandos vor. Der Bewegungsabgleich hingegen muss nun im Zweifelsfall anhand der anderen Gruppenmitglieder geschehen. Die dritte Phase ist jene, zu der die beiden vorherigen Phasen hinführen. Sie ist für die Zielsetzung die wichtigste. In dieser Phase gibt der Übungsleiter lediglich das Kommando, die Übung zu beginnen und nach Beendigung in die Ausgangsposition zurückzukehren. Tempo und Rhythmus sind hier nicht von außen vorgegeben, sondern werden innerhalb der Gruppe verhandelt. Ziel ist die Synchronizität und die Harmonisierung der Gruppe als Einheit. Die Gruppenmitglieder sind daher dazu angehalten, nicht nur ihrem eigenen Rhythmus zu folgen, sondern sich darüber hinaus an den anderen Gruppenmitgliedern zu orientieren. Zu Beginn kann es helfen, ein Gruppenmitglied zu bestimmen, an dem sich die anderen orientieren können. Im weiteren Verlauf ist es jedoch ratsam dies aufzugeben, um den Fokus auf eine einzelne Person nicht zu verstärken. Es können auch jeweils vier Gruppenmitglieder bestimmt werden, an denen sich die übrigen, je nach Blickrichtung, orientieren können. In der letzten Übungsvariante sollte jedoch jedes Gruppenmitglied versuchen, seine Aufmerksamkeit nicht auf ein bestimmtes Gruppenmitglied zu richten, sondern vielmehr alle anderen Mitglieder in unmittelbarer Umgebung wahrzunehmen, um sich mit ihnen zu synchronisieren. Helfen kann dabei die Aufforderung, einen peripheren Blick anzuwenden. Hierbei wird der Blick nicht zu fokussiert, sondern es wird versucht, das eigene Blickfeld zu maximieren und auch die Personen am Rande des eigenen Blickfelds wahrzunehmen. Der Gedanke dabei ist, dass die Trainierenden lernen, sich aufmerksam in der Gruppe zu bewegen und den eigenen Rhythmus dem der Gruppe anzupassen, bzw. innerhalb der Gruppe einen gemeinsamen Rhythmus zu verhandeln. So soll letztlich eine harmonische Gruppenbewegung emotional erfahren und über die einzelne Situation hinaus eine gemeinsame Gruppenidentität entwickeln werden.

Poomsae und „Communitas“

Ein theoretischer Kontext für die Gruppenbildung in und anhand von körperlichen Praktiken findet sich in der Arbeit des Performance-Ethnologen Victor Turner, der sich in den 1960er und 1970er Jahren mit der Wirkungsweise und sozialen Bedeutung von Ritualen befasste. Insbesondere in seinen beiden Hauptwerken „Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des Menschlichen Spiels“ (1982) und „Das Ritual: Struktur und Antistruktur“ (1969) entwickelt er seine Theorie um den Begriff „Communitas“. Als Communitas versteht Turner das Phänomen, wenn eine Gruppe kollektiv in einer Handlung aufgeht und in der Situation ein aufrichtiges, kollektives Identitätsgefühl wahrnimmt. Er sieht Communitas dabei als gemeinschaftliches Erfahren von „Flow“; nicht durch einzelne, an dem selben Ort versammelte Individuen, sondern durch eine kollektiv agierende Gruppe. Mit „Flow“ greift er dabei einen Begriff auf, der zuvor insbesondere durch den Psychologen Mihaly Csikszentmihalyi geprägt wurde. Dieser verstand „Flow“ als Einheit von Geist und Handlung, als in-dem-Moment-sein, das individuell als lustvoll und produktiv-bereichernd empfunden wird. Durch das wiederholte Erleben von „Communitas“, gemeinschaftlich-kooperativ erlebtem „Flow“, entwickeln Gemeinschaften in gemeinsamen Ritualen, so Turner, eine Gemeinschaftsgefühl, das auch jenseits des Rituals gemeinschaftsbildend wirkt. In diesem Sinne könnte die kollektive Poomsae-Praxis als Methode fungieren, um durch körperlich-emotionale Erfahrung von „Communitas“ ein integratives Gemeinschaftsgefühl zu vermitteln. Eine Poomsae mehrmals ohne Unterbrechung hintereinander zu laufen oder mehrere Poomsae ohne Pause aneinander anzuschließen ist dabei hilfreich, um den kollektiven Flow – Communitas – zu erreichen und für längere Zeit zu halten.

Kyorugi als verdichtete Interaktion: Miteinander im Gegeneinander

Kyorugi ist mehr als Wettkampf. Konzeptuell betrachtet, handelt es sich um die körperliche Interaktion zweiter Individuen, die je nach Intensität eine psychologische Ausnahmesituation darstellen kann. Für eine sozialpädagogische Zielsetzung ist der Freikampf als sozialer Prozess von Bedeutung. Nicht der Ausgang ist relevant, sondern die Art und Weise, wie die Beteiligten sozial miteinander interagieren. Dies mag manch einem bitter aufstoßen, geht es doch im Kampf allem voran um Sieg oder Niederlage – sei dies ein sportlicher Kampf oder ein „realer“. Bedeutet im sportlichen Kampf eine Niederlage den Verlust von Ansehen, einem Ranglistenplatz oder vielleicht sogar einem Preisgeld, kann die Niederlage im „realen“ Kampf möglicherweise gar den Verlust des eigenen Lebens bedeuten. Während der Freikampf im Taekwondo-Training sicherlich auf diese Arten von Konfrontationen vorbereiten muss, ist seine Rolle als kämpferisches Spiel aus sozialpädagogischer Sicht von großer Bedeutung.

Kyorugi jenseits von Sieg und Niederlage

Den Prozess des spielerischen Kämpfens in den Mittelpunkt zu rücken, bedeutet, ihn als Ereignis zu betrachten, das von beiden Akteuren im gemeinsamen Spiel kreiert wird. Diese „Aufführung“ benötigt kein außen stehendes Publikum, auch wenn dieses im Training zweifellos mitbedacht werden kann. Nicht zuletzt sind es jedoch die Akteure, die gleichzeitig „Zuschauer“ ihrer eigenen Handlungen und denen des Mitspielers sind. Jeder, der bereits mehrere Freikämpfe im Training miterlebt hat, konnte sicherlich beobachten, dass die spezielle Kampfweise etwas sehr individuelles ist. Wenn auch Regeln und taktische Vorgaben des Übungsleiters bereits bestimmte Kampfweisen vorgeben, ist der individuelle Ausdruck doch stets erkennbar. Man denke beispielsweise an Lieblingstechniken, die Favorisierung einer offensiven oder defensiven Kampfweise oder die Art und Häufigkeit eines Kihap. In diesem Sinne ist der spielerische Kampf ein Medium, in dem sich jeder Akteur durch seinen Körper selbst ausdrücken kann. Der spielerische Kampf ist somit nicht zuletzt auch als künstlerischer Akt zu betrachten. In ihm drücken die Akteure sich selbst, ihre Emotionen, Zielsetzungen oder ihr ästhetisches Verständnis in körperlichen Handlungen aus und nehmen gleichzeitig jene des Gegenübers wahr und regieren auf sie. Gemeinsam treten beide Kämpfenden so in eine Art körperlichen Dialog, der auch von Außenstehenden durchaus als schön betrachtet werden kann.

Dieser Zugang zum Taekwondo-Kyorugi bietet mehrere sozialpädagogisch relevante Anknüpfungspunkte. Kyorugi ist verdichtete soziale Interaktion im Modus der körperlichen Konfrontation. Gleichzeitig ist es konkreten Regeln unterworfen, die konsequenzvermindernd wirken und somit die Erprobung von sozialem Handeln ermöglichen. Hier ist es der Übungsleiter, der die Aufgabe hat, Kyorugi als „Labor“ für soziale Kommunikation innerhalb des Trainings zu etablieren. Im Wesentlichen geht es im Kyorugi auch um die individuelle Frage, in wie weit ich mich selbst verwirklichen kann, während ich mich gleichzeitig gegebenen Konventionen aus eigenem Interesse unterordne. Ein Verstoß gegen die Konventionen des Spiels würde schließlich ein Ende des Spiels bedeuten. Eine Zähmung der eigenen Triebhaftigkeit ist daher notwendig. Kyorugi bietet hier den Rahmen, individuelle Strategien der Selbstkontrolle zu entwickeln. Doch nicht nur der Selbstkontrolle, sondern auch des Selbstbewusstseins. Nicht zuletzt bietet Kyorugi auch einen Rahmen, in dem individuelle Strategien des Umgangs mit Stresssituation eingeübt werden können.

Abseits vom olympischen Zweikampf, sind Kyorugi-Regeln verhandelbar. Die Regeln des olympischen Kyorugi bieten dennoch zwei Vorteile. Zum einen ist der Fokus auf Fußtechniken ästhetisch ansprechend. Fußtechniken sind oftmals jenes Merkmal, das Anfängerinnen und Anfänger, beeinflusst durch massenmediale Darstellungen, mit Kampfkunst und Kampfsport verbinden. Des Weiteren bietet das Verbot von Handtechniken zum Kopf wie auch die verwendete Schutzausrüstung einen verhältnismäßig sicheren Handlungsrahmen. Taekwondo gilt nicht als Sportart mit vielen KOs, wenn diese auch nicht vollkommen auszuschließen sind. Kontrollierte Gefahr ist reizvoll und ein wirksamer Lernrahmen. So wäre es sicherlich auch denkbar, mit steigendem Fähigkeitsniveau Regeln zu modifizieren, mehr Techniken zuzulassen oder Schutzausrüstung wegzulassen. Abgesehen von der Notwendigkeit eines variantenreichen Kyorugi-Trainings für die Ausgewogenheit des Taekwondo als umfassende Kampfkunst, stellt die potentielle Zunahme des Gefahrenniveaus auch ein pädagogisches Chance dar. Durch das stetig steigende Gefahrenniveau, wird die persönlichen Selbstkontrolle umso notwendiger, wenn das Spiel funktionieren soll. Die Anweisung zu geben, von Sieg oder Niederlage abzusehen und stattdessen einen „schönen Kampf“ zu zeigen, ist als Strategie durch den Übungsleiter darüber hinaus denkbar. Interessenten kann ich weiterführend zu Thema Sparring abseits von Sieg und Niederlage den Vortrag von Janet O’Shea bei der Martial Arts Studies Conference aus dem Jahr 2016 empfehlen. Er ist auf YouTube frei abrufbar (https://www.youtube.com/watch?v=JakJ_BFbzz8). Für Interessenten mit weniger Zeit kann ich außerdem dem TEDx Talk von Janet O’Shea an der UCLA empfehlen (https://www.youtube.com/watch?v=MWrRkzluCPo). Darüber hinaus sind auch bereits diverse Beiträge zu diesem Thema in den Konferenz-Sammelbänden der Kommission Kampfkunst und Kampfsport der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft erschienen. Interessierte können auf auf der Homepage der Kommission (http://www.sportwissenschaft.de/index.php?id=kkk) umfangreiche Informationen zu diesem Thema erhalten.

Während alle Aspekte des Taekwondo ihre Berechtigung besitzen, sind für ein sozial integratives Training insbesondere die Bereiche Poomsae und Kyorugi interessant. Doch auch sie sind es nur unter bestimmten Bedingungen. Es gilt daher, das einzelne Taekwondo-Training bewusst zu entwerfen und gleichzeitig auch im Hinblick auf seine sozialpädagogische Anwendbarkeit hin zu hinterfragen. Aus sozialpädagogischer Perspektive ergänzen die hier vorgestellten Formen des Poomsae- und Kyorugi-Trainings einander in optimaler Weise. Während das Poomsae-Training das Gemeinschaftserlebnis in den Vordergrund rückt, geht es im Kyorugi-Training um die individuelle Positionierung des Selbst gegen äußere Widerstände. Dabei wird nicht nur die kompromisslose Durchsetzung des eigenen Willens trainiert, sondern vielmehr der dialogische Austausch, die Erfahrung eigener Grenzen und denen des Gegenüber.

Taekwondo – ein sozialpädagogisches Wundermittel?

Sicherlich nicht! Weder Taekwondo, noch Kampfkünste und Kampfsportarten im Allgemeinen, können als DAS Mittel für sozialen Zusammenhalt und ein „gesundes“ Sozialverhalten präsentiert werden. Andere Sportarten, insbesondere Gemeinschaftssportarten, besitzen sicherlich ein mindestens ebenso großes Potential. Ohne Zweifel ist – wie so oft – das „Wie?“ entscheidend. Es wäre absurd zu glauben, Taekwondo wäre per se geeignet sozialen Zusammenhalt und angemessenes Sozialverhalten zu befördern – das Gegenteil wäre ebenso denkbar. Entscheidenden Einfluss hat hier der Übungsleiter und dessen Konzeption des Trainings. Welche Trainingsmethoden verwendet werden, welche sozialen Anordnungen im Training gewählt werden, wie der Übungsleiter seine eigene Rolle entwirft: all dies ist bei der Beurteilung zu beachten. Nichts desto trotz besitzt Taekwondo im Hinblick auf eine sozial integrative Pädagogik ein enormes Potential. nicht zuletzt auch wegen seiner Vielseitigkeit.