Lisa Gjessing
ist Paralympics-Siegerin

Am 3. September gewann Lisa Gjessing Gold bei den Paralympischen Spielen. Im Juli hatten wir Gelegenheit für ein Interview mit der Ausnahmesportlerin:

Mit vier Welt- und fünf Europameistertiteln ist Lisa Gjessing schon heute eine Legende in ihrem Sport. Doch die Dänin hat ein weiteres großes Ziel: Am 3. September startet sie bei der paralympischen Premiere des Taekwondo in Tokio. Wir sprachen mit Lisa über ihre ungewöhnliche Karriere und ihre Vorbereitung auf die Paralympischen Spiele.

TA: Lisa, Du hast schon so viele Erfolge gefeiert und wichtige Medaillen gewonnen – was bedeutet der Start bei den Paralympics in Tokio für Dich persönlich?

Lisa Gjessing: Er bedeutet viel für mich. Die Paralympischen Spiele sind ein Ziel für mich seit meiner Amputation. Dass ich die Möglichkeit habe, dort teilzunehmen, war von Anfang an ein positiver und motivierender Gedanke. Darüber hinaus waren die Paralympischen Spiele schon immer eine Inspiration für mich, weil die Menschen dort vereint sind durch den Sport. Es wird zweifellos eine der großen Erfahrungen in meinem Leben sein, daran teilzunehmen.

TA: Du bist die einzige Para-Taekwondo-Athletin in Dänemark. Wer sind Deine Trainingspartnerinnen, wie läuft Dein Training ab und wie bereitest Du Dich auf Tokio vor?

Lisa Gjessing: Mein Coach ist Bjarne Johansen. Ich habe schon in jungen Jahren bei ihm trainiert, erst im Verein, später dann Anfang der 2000er Jahre, als ich im Nationalteam war und er Nationaltrainer, und er ist auch heute noch mein Coach. Meine Trainingspartnerin ist Jasmine Andersen, eine unserer besten nicht-behinderten Sportlerinnen in Dänemark. Wir trainieren sowohl im Verein als auch im Nationalteam zusammen und Jasmine wird mit mir nach Tokio reisen. Die Regeln von Para-Taekwondo und klassischem Taekwondo sind sehr ähnlich. Der einzige Unterschied ist, dass keine Kopftreffer erlaubt sind. Fauststöße sind erlaubt, geben aber keine Punkte. Deshalb ist es einfach, zusammen zu trainieren.

TA: Durch Deine Erfolge bist Du eine der bekanntesten Para-Taekwondo-Athletinnen. Seit November 2017 bist Du ununterbrochen die Nummer 1 im Paralympischen Ranking von World Taekwondo. In Tokio werden Deine Kämpfe deshalb mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt werden. Wie gehst Du mit dem Erfolgsdruck um und wie bereitest Du Dich mental auf die Spiele vor?

Lisa Gjessing: Ich versuche mich möglichst wenig darauf zu konzentrieren, aber ab und zu schleicht sich dieser Gedanke in mein Bewusstsein: Ich führe im Ranking und werde in Tokio eine der Favoritinnen sein. Das ist eine Tatsache, an der ich mich messen muss. In diesen Momenten sage ich mir, dass wir alles tun, was möglich ist, um unser Ziel zu erreichen. Wir trainieren gut und ich gebe mein Bestes und ich bin sicher, dass mein Körper und mein Geist am 3. September wissen, was zu tun ist. Das ist es auch, was ich meiner Tochter sage, wenn sie vor einem Spiel nervös ist: Dein Körper und dein Geist haben das schon so oft gemacht, vertraue Dir selbst.

TA: Du hast es schon erwähnt, Du warst schon vor Deiner Erkrankung Mitglied im dänischen Nationalteam und hast an den Weltmeisterschaften 2001 und 2003 teilgenommen. Du hast dann acht Jahre lang kein Taekwondo betrieben und bist erst 2012 zum Para-Taekwondo zurückgekehrt, nachdem Du in Folge einer Krebserkrankung Deinen linken Unterarm verloren hast. Warum hast Du Dich entschieden, wieder Taekwondo zu trainieren und wie hat Dir der Sport in dieser Situation geholfen?

Lisa Gjessing: Vielleicht hat der Sport nach mir gegriffen. Ich habe nach meiner Amputation zunächst nicht an Taekwondo gedacht. Aber Bjarne, mein Trainer, hat mich besucht und hat mich gefragt, ob ich nicht mit Para-Taekwondo anfangen möchte. Ich hatte davon noch nie gehört, denn zu meiner aktiven Zeit hatte es das noch nicht gegeben. Aber ich brauchte nur ein paar Sekunden, dann habe ich gesagt: „Ja, warum nicht.“ Wir haben uns informiert und gesehen, dass es Turniere wie Europa- und Weltmeisterschaften gibt, und haben entschieden, dass wir das machen möchten. Der Sport war eine große Hilfe für mich, er war wie eine Therapie. Taekwondo war etwas, das von meinem alten Selbst nicht weit entfernt war und das mir leicht fiel. Ich denke, es ist wichtig, nicht immer Ziele zu suchen, die schwierig zu erreichen sind, sondern etwas, das einem nahe liegt. Wieder Sport zu machen und stark zu sein, hat mir geholfen, dafür bin ich dankbar. Ich war nie deprimiert nach der Amputation. Taekwondo war mental gut für mich, um mit diesem Teil meines Lebens zurecht zu kommen und mich weiter zu entwickeln. Ich dachte zuerst, ich würde nach meiner Krankheit jemand anderes sein, aber das war nicht der Fall.

TA: Im Gegensatz zu vielen anderen, oft jüngeren Athletinnen hast Du viele Verpflichtungen außerhalb von Taekwondo: Du hast eine Familie, Deine beiden Töchter sind zwölf und 15 Jahre alt. Du bist Juristin und arbeitest Vollzeit für die dänische Staatsanwaltschaft. Wie kannst Du das alles vereinbaren?

Lisa Gjessing: Ich denke für mich ist es wichtig, nicht nur eine zentrale Sache im Leben zu haben. Ich bin glücklich in meinem Beruf. Aber wenn ich Taekwondo mache, kann ich den Stress abbauen, den mir mein Job bereitet. Wenn Du Taekwondo machst, kannst Du an nichts anderes denken, sonst trifft Dich Dein Trainingspartner – Du musst dich zu 100 Prozent konzentrieren. Viele meiner Kollegen leiden unter Stress-Syndromen, aber mich betrifft das nicht, weil ich immer noch andere Dinge im Leben habe. Der Beruf ist nicht das Wichtigste in meinem Leben und der Sport ist auch nicht das Wichtigste. Ich muss arbeiten, denn vom Taekwondo kann ich nicht leben. Aber ich arbeite auch gerne und möchte meinen Kindern zeigen, dass man einen guten Job machen kann, wenn man sich entsprechend anstrengt.

TA: Du hast in einem Interview einmal gesagt, der schwierigste Moment ist es, abends zum Training zu gehen, wenn Deine Familie gerade das Abendessen vorbereitet. Denkst Du in solchen Momenten manchmal daran, das Training ausfallen zu lassen und wie motivierst Du Dich?

Lisa Gjessing: Ich darf dann gar nicht an die Möglichkeit denken, sonst beginne ich, Ausreden zu suchen… Wobei ich sagen muss, dass mein Coach viel Verständnis hat. Er weiß, dass ich manchmal zu Meetings von der Schule oder auch von der Arbeit gehen muss und er würde niemals sagen: „Wenn Du jetzt nicht zum Training kommst, kannst Du keine gute Athletin sein.“ Der schwierigste Punkt ist tatsächlich, wenn ich meinen Mann und die Kinder abends allein lasse, weil ich dann das Gefühl habe, ich lasse sie im Stich. Deshalb organisiere ich die Woche so, dass sie dann andere Dinge zu tun haben. Als die Kinder kleiner waren, habe ich oft Play-Dates für sie organisiert. Ein andere Methode ist, so viel Zeit und Mühe wie möglich zu investieren, wenn ich da bin. Ich koche zum Beispiel etwas Tolles, und schaue, dass auch für den nächsten Tag noch etwas da ist, so dass sie das Gefühl haben, ich bin da und denke an sie. Mein Mann war professioneller Handball-Spieler und meine Töchter spielen auch viel Handball. Sie wissen, wie es ist, ein Profi-Athlet zu sein, das macht es einfacher und sie helfen mir sehr. Es ist manchmal anstrengend, aber wir schauen auf die guten Seiten und wenn es etwas zu feiern gibt, dann feiern wir das gemeinsam.

TA: Du bist erfolgreiche Juristin. Wie reagieren zum Beispiel neue Kollegen bei der Staatsanwaltschaft darauf, wenn sie hören, dass Du Kampfsportlerin bist?

Lias Gjessing: Das ist eine gute Frage (lacht). Sie sind immer überrascht, aber sie nehmen es gut auf. Zur Zeit arbeite ich an eine Polizeistation und bei der Polizei hat Sport eine lange Tradition. Sie sind flexibel, wenn es darum geht, dass ich zu Trainingscamps fahre oder zu einem Turnier. Ich organisiere dann alles so, dass meine Kollegen keine Arbeit von mir übernehmen müssen. Natürlich gibt es auch Leute, die nicht die leiseste Ahnung haben, was ich da mache, aber alles in allem sind meine Kollegen sehr hilfsbereit und unterstützen mich. Ich denke und hoffe, dass sie auch ein bisschen stolz darauf sind, mit mir gemeinsam meine sportlichen Ziele zu erreichen.

TA: Kommen wir noch einmal auf die Paralympics zurück. Denkst Du schon an Deine möglichen Gegnerinnen in Tokio?

Lisa Gjessing: Ja, denn wir haben eine immer klarere Vorstellung von den Viertelfinales und Halbfinales. Wir schauen deshalb mehr auf die möglichen Gegnerinnen und stellen unser Training drauf ab.
Im Juni besuchte ich die Pan-Am-Championships in Mexiko und verlor zum ersten Mal in meiner Gewichtsklasse gegen die Brasilianerin Silvana Cardoso. Sie ist ein Komet, sie ist jung und sehr schnell. Für mich war das ein guter Warnschuss. Wegen Corona hatten wir lange keine Kämpfe, deshalb kam ich nach Mexiko und war mental nicht vorbereitet. Es war wichtig für mich zu sehen, dass die anderen Sportlerinnen wirklich gewinnen wollen, dass sie hart trainieren und sehr gute Fähigkeiten haben. Ich denke ich habe in meiner Kategorie mindestens vier oder fünf hochklassige Gegnerinnen. Im Training stelle ich mir vor, dass diese Sportlerinnen in Tokio auf mich warten und das hilft mir mental, mein Bestes zu gebe. Es war hilfreich, dass ich dieses Mal verloren habe.

TA: Könntest Du uns ein wenig über den geplanten Ablauf erzählen: Wann reist Du nach Tokio und wer wird Dich begleiten?

Lisa Gjessing: Normalerweise dürfen die Sportler wegen Corona nur fünf Tage vor ihren Wettkämpfen nach Japan reisen. Aber da ich Fahnenträgerin für das dänische Team bin, habe ich eine Sondergenehmigung und fliege schon am 21. August. Am 24. August ist die Eröffnungsfeier und am 3. September dann mein Wettkampftag. Bei der Eröffnungsfeier dabei zu sein war immer ein Traum von mir und ich freue mich sehr darauf. Begleitet werde ich von meinem Coach Bjarne Johansen und meiner Sparringspartnerin Jasmine Andersen. Außerdem kommt meine Fitnesstrainerin mit. Sie ist zugleich für das dänische Team dabei, aber sie wäre nicht gekommen, wenn wir sie nicht gefragt hätten und ich bin sehr froh, dass sie mich unterstützt. Eventuell ist noch ein weiterer Taekwondotrainer dabei, der auf Videoanalysen spezialisiert ist.

TA: Du wirst Fahnenträgerin für Dein Team bei den ersten Paralympischen Spielen sein – was ist das für ein Gefühl?

Lisa Gjessing: Ich bekomme schon Gänsehaut wenn wir nur darüber sprechen! Ich bin sehr stolz darauf. Tatsächlich weine ich oft bei solchen Zeremonien, deshalb kann ich kaum beschreiben, wie ich mich in Tokio fühlen werde.

TA: Du hast es Dir zur Aufgabe gemacht, Para-Taekwondo auch über Deine eigene Karriere hinaus zu fördern. Könntest du uns dazu etwas berichten?

Lisa Gjessing: Momentan ist es schwierig wegen der Pandemie, aber ich halte schon seit einigen Jahren immer Ausschau nach Menschen mit Behinderungen und versuche Kontakt mit ihnen aufzunehmen. Denn es gibt viele Menschen mit Handicaps, die Taekwondo trainieren und nichts von Para-Taekwondo wissen, einfach weil man Taekwondo eigentlich immer und mit jedem Partner trainieren kann. Diese Leute möchte ich auf Para-Taekwondo aufmerksam machen, weil es ihnen so viele wertvoller Erfahrungen eröffnen kann. Nach den Paralympischen Spielen werde ich mehr Zeit haben und dann möchte ich die Aufmerksamkeit für unseren Sport verbessern.

TA: Welchen Rat hast Du für junge Sportler, die sich für Para-Taekwondo interessieren oder die vielleicht sogar schon überlegen, in den Leistungssport einzusteigen?

Lisa Gjessing: Ich möchte ihnen sagen: „Macht es einfach!“ Es ist ein große Chance, die Welt zu sehen und Menschen kennen zu lernen, die sie ohne den Sport nie getroffen hätten. Diese Möglichkeit sollten sie nutzen. Seit meiner Krebserkrankung ist mir bewusst: Du hast nur ein Leben, Du weißt nie, was dich treffen wird und Du solltest die Gelegenheiten für neue Erfahrungen wahrnehmen. Das ist mein Rat: Tue es einfach und habe Spaß dabei.

Lisa bei der Olympiavorbereitung in Bonn mit ihrem Trainer Bjarne Larsen sowie Carlos Esteves und Aziz Acharki (Nationaltrainer Dänemark und Cheftrainer Olympic Taekwondo Bonn).

TA: Gibt es etwas, das Du gerne ergänzen möchtest?

Lisa Gjessing: Ich habe ja schon die Menschen genannt, die mit mir nach Tokio kommen – das bedeutet mir sehr viel. Darüber hinaus gibt es noch eine ganze Reihe von Leuten, die mich unterstützen. Taekwondo ist ein Individual-Sport, aber den Sport zu betreiben, ist nicht möglich ohne meinen Verein und die Menschen dort und ohne den Taekwondoverband. Ich kann gar nicht alle erwähnen, die mir helfen und die einen Anteil daran haben, dass ich das tue, was ich tue. Dafür bin ich dankbar.

TA: Dankeschön für dieses Gespräch und viel Glück und Erfolg in Tokio.

Infobox:

Lisa Gjessing
Geburtstag: 4. Juli 1978
WT Para Kyorugi Ranking: Nummer 1
Wettkampftag in Tokio: 3. September 2021
Kategorie: Damen -58/K44
Wichtigste Erfolge:
Weltmeisterin 2013, 2014, 2015, 2017
WM-Bronze 2019 (Verletzungsbedingte Aufgabe nach dem Viertelfinale)
Europameisterin 2013, 2015, 2016, 2018, 2019

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